Dienstag, 12. Juni 2007
Der 20. November: Wer anders ist, ist allein
Unter den Zuschauern im Europabahnhof befindet sich ein Jugendlicher mit der T-Shirt-Aufschrift „Hart.Härter.Ich“. Er scheint zu wissen, um was es in dem Monolog „Der 20. November“ von Lars Norén geht. Ich ist das auf der Welt am meisten verwendete Wort, erzählt darin Sebastian. Er hat auf die vielen Ichs um ihn herum keine Lust mehr. Deshalb führt er eine Tasche mit Waffen bei sich, die er nach einer Stunde gegen seine Lehrer und Mitschüler richten will. Anne Tismer ist Sebastian, der Schüler, der sich für seinen Rachefeldzug die Massaker von Erfurt und Columbine zum Vorbild nimmt. Sie hat ihren Weg von der Tür zum Publikum mit Kreide aufgezeichnet; sechs Meter für Sebastians Leben. Wütende Anklagen schleudert sie ins Publikum, dann wird die Stimme wieder leise, fast bittend. Sie reißt mit drohender Geste die Arme hoch. Im nächsten Augenblick spricht sie mit ruhiger Stimme einen Zuschauer an. Du glaubst wohl, du hast für alles eine Lösung? Nicht jeder antwortet auf die Fragen, ein angespanntes Unwohlsein ist im Raum spürbar, wenn Tismer mit ihrer ungeheuren Körperspannung immer wieder die Distanz zum Publikum durchbricht. Mit ihrer Tasche geht sie auf dem Kreideweg zum Ausgang. Kurz vor der Tür dreht sie sich noch einmal um: Gibt es jemanden, der was dazu sagen will, bevor ich gehe? Das Schweigen hält lange an, länger noch die Präsenz der Schauspielerin selbst nach ihrem Abgang.

Text: Mareike Vennen

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Questions de Directions: Aufbruch ins Ungefähre
Eine atemberaubende Atmosphäre herrscht in dem grell orangen Zirkuszelt vor dem Saarbrücker Staatstheater – was zunächst nicht allein den Artisten der Show „Question de Directions“ zu schulden ist. Die drückende Hitze unter dem hohen Dach lässt dem Publikum die Luft wegbleiben. Dem kollektiven Wedeln mit Programmheften folgt dann aber kollektives Staunen. Denn was die französische Gruppe Collectif AOC auf der Bühne zeigt, macht für anderthalb Stunden die Hitze vergessen. Die neun Artisten bieten ein Programm ohne Zäsur, ohne Innehalten: eine soghafte Mischung aus Tanz-Performance, Slapstick und Akrobatik.
Das Gute kommt diesmal nicht von oben, sondern von unten. Die ungewöhnliche Art des Auftritts und Abgangs durch Klappen im Boden der Bühnenplattform markiert ein zentrales Element, das immer wieder in Szene gesetzt wird. Die Darsteller schießen aus den Löchern oder lassen sich kopfüber hineinfallen, strecken spielerisch nur die Beine heraus und linsen frech über den Rand der Öffnungen.
Auf der Bühne spielen die Mitglieder des Collectif AOC aus, was sie am Centre National des Arts du Cirque gelernt haben – und das teilweise gleichzeitig. Eine Artistin hangelt sich wie Spider Man an einer fünf Meter hohen Stange auf und ab. Eine Seiltänzerin vollführt Sprünge und Drehungen auf dünnem Draht. Mit erstaunten Ausrufen und begeistertem Applaus quittiert das Publikum die Höhepunkte der Show: eine Paar-Einlage am Trapez und das große Finale am Trampolin. Atempausen sind im Programm nicht vorgesehen. Zusammengehalten und vorangetrieben wird die permanente Aktivität durch komödiantische Einlagen und Tanz.
„Question de Directions“ ist der Versuch, das traditionelle Bild vom Zirkus aufzubrechen: kein Direktor mit Zylinder, kein wagemutiger Löwen-Dompteur und kein Clown mit roter Pappnase. Der Wille, etwas Neues und Individuelles zu kreieren, ist lobenswert und wird in Ansätzen auch umgesetzt, er geht jedoch an manchen Stellen zu weit. Das Abweichen vom hierarchischen Nummern-Programm hin zur Gleichzeitigkeit verschiedener artistischer Darbietungen wirkt zunächst erfrischend anders. Zuviel (geplante) Anarchie auf der Bühne löst jedoch Verwirrung aus, sodass man bisweilen nicht so recht weiß, wo man hinsehen soll. Selbst der aufmerksamste Beobachter dürfte daran scheitern, alles aufzuzählen, was er gesehen hat. Trotzdem ist „Question de Directions“ ein Erfolg. Aus einem einfachen Grund: Die Show bietet Spaß und Kurzweil. Und letztendlich sind es gerade die traditionellen Zirkus-Elemente, die Begeisterung im Publikum auslösen.

Text: Stefanie Marsch

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Questions de Directions | Où va-t-on?
Le collectif AOC, Appellation d’Origine Contrôlée ou Artistes d’Origine Circassienne, ou label pour un bon vin donc attestation pour un bonheur assuré, rompt avec le cirque traditionnel. Il s’inscrit dans la lignée du nouveau cirque. Ici, ne vous attendez pas à retrouver Monsieur Loyal, le clown n’a pas de nez rouge, et vous ne verrez pas non plus de numéro de domptage. L’orchestre traditionnel est remplacé par un homme-orchestre et le chapiteau est orange. Musique, costumes, street dance et autres codes urbains sont utilisés pour un décalage assuré, en tous les cas promis.

Sous le chapiteau, la scène circulaire sur laquelle est tracée une ligne jaune ressemble à une boussole. Quelle direction nous indique-t-elle? Comme des pantins sortant chacun de sa boite, les interprètes surgissent du sol par des trappes, comme montés sur ressorts. Sous la scène, ça grouille, il se passe visiblement pas mal de choses.

Le spectacle est en trois dimensions, Nord/Sud, Est/Ouest, en diagonal, sous terre, de haut en bas, en profondeur. Dans cet espace, les personnages tracent des lignes avec leur imagination. Les danses, les performances, les acrobaties sont travaillées sur ces multiples axes. Ainsi le duo de trapézistes sait jouer des verticales, des coulées de corps, tout en se balançant dans les airs. Des portés souvent riches en inventions, malgré une belle et feinte simplicité non dénuée d’humour. Ainsi encore ce duo a distance qui réunit en une image le mat tendu vers le ciel au fil de fer tracé dans l’horizon. Des lignes à l’espace, le spectacle se construit pour nous guider vers l’exploration d’un inattendu trou noir. Etonnant numéro de trampoline où le temps et l’apesanteur semblent s’être donné rendez-vous. Les personnages se font absorber, rejeter, bousculer dans les filets a rebonds. Au ralenti, en accéléré, en avant, ou en arrière, on dit rewind sur nos machines modernes, les corps figurent les temps possibles dans un même espace. On en perd sa boussole. Propulsés dans cette machine à broyer les repères, les interprètes, jusqu alors plutôt artisans de la lenteur, semblent sur vitaminés. Libérés des lignes et des angles droits, ils offrent une fin de partie plus colorées et plus folle. Auraient-ils placé la scène sans dessus dessous et par le rebond transformé le dessus du dessous ? Mais ce n’est qu’une hypothèse...

texte: Mariette Loirat

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