Freitag, 15. Juni 2007
Ein Alpen-Traum
30 Betten in einer Kirche – das erinnert zunächst an eine Notunterkunft für Hochwasseropfer. Doch die Besucher, die sich gegen 23 Uhr in der Saarbrücker Johanneskirche einfinden, kommen freiwillig, um die Nacht in der Klangwelt einer Alpenlandschaft zu verbringen.
Die Compagnie 29/09 und das theater konstellationen suchen seit vier Jahren ungewöhnliche Orte für ihre Performance Alpinarium_3. Für Perspectives haben sie im Mittelschiff der Johanneskirche Metallbetten aufgestellt, daneben hölzerne Nachttische mit kleinen Lämpchen. Lautsprecher in den Seitenschiffen der Kirche, unter den Betten und in den Kopfkissen stimmen mit sanften Trommelklängen ein auf diese Nacht. Bewacht wird die Szenerie von zwei Putten, die vom Orgelbalkon aus auf die Besucher herabblicken.
Diese fast heimelige Atmosphäre erwartet die Besucher in der Johanneskirche, und es entsteht eine merkwürdige Intimität zwischen ihnen, als die Macher von Alpinarium_3 dazu auffordern, sich für die Nacht vorzubereiten. Einige ziehen sich ihre Schlafanzüge an, andere legen sich in Straßenkleidung auf die Betten. Sie kuscheln sich in ihre Kissen, lassen sich Schweizer Schokolade und einen Schnaps zum Einschlafen verabreichen und knipsen nach und nach die Nachttischlampen aus, um sich ganz der Alpen-Klangwelt zu überlassen: Vögel zwitschern in einer entfernten Nische der Kirche, eine Ziege blökt unter dem Bett, Frauenstimmen flüstern aus dem Kopfkissen. Frauen, die ihre Lebensgeschichten erzählen, auf Französisch, Swizerdütsch, Deutsch. Geschichten über die Schönheit der Alpenlandschaft, über die Isolation in den Gebirgstälern, über den Wunsch der Enge der Täler zu entfliehen. Und über das Heimweh, das sie jenseits der Alpen dann doch wieder einholt. Das Tonmaterial für diese Installation sammelte die Compagnie bei Gesprächen mit Frauen aus dem gesamten Alpenraum. Zwei Jahre lang dauerte diese Recherche.
Bei Perspectives wurde die Performance erstmals in einer Kirche zur Aufführung gebracht, und in der Weite des Kirchenraums verbinden sich die Stimmen der Alpenbewohnerinnen mit den Geräuschen ihrer Lebenswelt zu einem vollen Klang. Der Zuhörer kann dieser Tonkulisse aufmerksam folgen oder sich fallen lassen und langsam wegdämmern.
Und sinkt er dann in den Schlaf, dann verwischt die Grenze zwischen Klängen, Erzählungen, Träumen und Realität: Grast da wirklich eine muhende Kuh hinter dem Altar? Kommt das Schnarchen aus der Alpenwelt oder ist das nur der Mann im Nachbarbett? Und das heftige Gewitter, das gegen fünf Uhr morgens das Gewölbe der Kirche erschüttert, wurde es in den Alpen aufgenommen?
Der Morgen kommt sanft daher, in Form der lang gezogenen Melodie eines Alphorns. Daniel Erismann spielt dieses Instrument virtuos und geleitet so die Schläfer zurück in die Johanneskirche. Beim gemeinsamen Frühstück mit den Machern dieser sonderbaren Nacht werden die nächtlichen Erlebnisse ausgetauscht, die gehörten Geschichten wiederholt, verglichen und ergänzt. Und dann erfährt auch derjenige, der die Performance schlafend verbracht hat, was es eigentlich mit dieser faszinierenden Alpen-Klangwelt auf sich hat.

Text: Hannah Kabel

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