Freitag, 15. Juni 2007
Massacre du printemps
Jeder Choreograph will irgendwann einmal „Le Sacre du Printemps“ machen. Igor Strawinskys Werk ist für das Tanztheater wie Shakespeares „Hamlet“, wie Goethes „Faust“ für das Schauspiel. Muss man einmal gemacht haben. Heddy Maalem hätte es besser gelassen: Dunkelhäutige Tänzer in unterschiedlicher, einfarbiger Bademode tanzen zu Strawinskys moderner, kompliziert rhythmisierter Orchesterkomposition, unterbrochen von Projektionen von Pferden und Autobahnen. Klingt komisch, ist aber so.
Strawinskys „Frühlingsopfer“ wurde 1913 als Ballett uraufgeführt. Es kam zum Skandal – das Publikum war noch nicht gefasst auf diese Art von Musik. Die ausgefallene Instrumentierung und extreme, unvorhersehbare Akzentuierungen bereiten den Boden, auf dem das „Frühlingsopfer“, ein ganz ursprüngliches, heidnisches Ritual, stattfinden wird. Aus Freude und Dank für die Wiederbelebung der Natur im Frühling soll dem Frühlingsgott eine Frau geopfert werden. Mit brüllenden, stampfenden Schlägen und existentiellen, alles bedeutenden Aufschreien in der Musik wird die Auserwählte gehuldigt und verehrt, es ist eine Ehre, als Frühlingsopfer zu sterben.
Die christliche Erzählung der Schöpfung der Menschheit durch Gott und die heidnische Beschwörung eines Gottes in einem grausamen Ritual stehen in keiner Beziehung zueinander. Heddy Maalem beginnt seine Choreographie jedoch mit einem eindeutigen Bild: Vor der verschwommenen Projektion von Urwalddetails sind die Umrisse zweier sich entfaltenden und aufrichtenden Menschen zu erkennen, Gewitter erklingt. Mann und Frau, Adam und Eva, stehen sich gegenüber, berühren sich, umschlingen sich. Bald darauf wird die Bühne bevölkert von albern tanzenden Gruppen von sechs Männern und Frauen, wobei zwei immer ausgeschlossen werden: Die dünnen, schlaksigen, identischen Tänzer (da Zwillinge) flankieren die Gruppen mal ängstlich, mal anstachelnd.
Den existentiellen Anspruch der Musik relativiert Maalem indem er seine Tänzer in lächerlicher Paartanzhaltung mit dem Hintern wackeln lässt. Frühlingsopfer auf Ibiza. Die musikalisch sowie technisch minderwertige Aufnahme von Strawinskys Meisterwerk unterbricht Maalem für einen erneut verzweifelten und vergeblichen Versuch der Bedeutungserzeugung durch Projektionen von dunkelhäutigen Menschen, die Holz hacken oder Fahrrad fahren. Busse und Straßen ruckeln bei synthetischer Geräuschkulisse unscharf vorbei. Der populistische Einsatz von Beamern und Brot-für-die-Welt-Motiven stiftet keinen Sinn. Ebenso wenig wie die Besetzung des Ensembles nach Hautfarbe: Das geht nur auf Kosten der tänzerischen Qualität. Aber sei’s drum – Afrika-Shows und -Musicals boomen, und so zieht Haalems „Sacre“ bereits seit einigen Jahren erfolgreich durch Europa.
Strawinskys Finale bildet eine unregelmäßige Reihung von geraden und ungeraden Taktarten mit bebenden Akzentverschiebungen durch üppig besetztes Schlagwerk, mit rasenden Blechbläser-Einsätzen. Aus jedem Instrument werden die gewaltigsten Töne beinahe herausgeprügelt bis nach dem Crescendo der Existenz alles in sich zusammenfällt: Einige zappelnde Flöten und hohe Geigen bleiben noch am Leben, bis sie von einem letzen dumpfen Schlag abgetrennt werden. Haalems tänzerische Umsetzung: Einfach einige Sekunden vorher das Licht ausschalten. Und danach? Richtig, weitere, endlose Projektionen. Diesmal Pferde. Mit Hufgetrappel.

Text: Matthias Weigel

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