Donnerstag, 14. Juni 2007
Daumenkino - „Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt“
Der Mann, der die Bilder das Laufen lehrt, heißt Volker Gerling. Seit 1998 porträtiert er mit einer motorisierten Spiegelreflexkamera Menschen und erstellt aus den Photoserien Daumenkinos. Angefangen hat er im eigenen Freundeskreis, begab sich aber bald quer durch Deutschland auf Wanderschaft, um Begegnungen und Eindrücke im Handformat festzuhalten und sie in seinen Wanderausstellungen und Vorführungen zu zeigen. Mit Hut und Bauchladen zieht er über Stadt und Land, übernachtet im Zelt und bei zufälligen Bekanntschaften. Die Geschichten, die er erzählen will, findet er schon vor der Haustür. „Es geht einfach um Begegnungen, um Leben. Um einen Moment, der lebendig wird. Das Photographieren löst bei den Leuten Emotionen aus – die Geschichten entstehen dann drum herum.“ Der Junge am Kanal, der sich nicht vorstellen kann, ohne Strom für seinen Computer auf Wanderschaft zu gehen. Der alte Mann, der als erstes das leere Bett seiner verstorbenen Frau zeigt. Das Mädchen, das sich die Haare abrasieren will und keine Zeit zu verlieren hat, um es sich nicht doch noch anders zu überlegen.
Diese Geschichten erzählt der Künstler, der neben seinem Kamerastudium in Babelsberg seine Wurzeln in der Photographie sieht, in seinem Bühnenprogramm. Zur Vorführung seiner Daumenkinos mit Beamer und Leinwand kam er zunächst nur zögerlich. Überzeugt hat ihn schließlich die Möglichkeit, mit seinen verdichteten Geschichten Kino en miniature zu ermöglichen und mit seinen Anekdoten die eingefangenen Momente in ihrer Ausstrahlung zu unterstreichen. Zugeständnisse an die Moderne macht Gerling auch in seiner bislang einzigen Auftragswanderschaft – für die Mannheimer Schillertage photographiert er sogar mit seiner Handykamera.
Von dem anfänglichen Versuch, den Porträtierten Bewegungsabläufe vorzugeben, ist der Künstler schnell abgekommen. Inzwischen arrangiert er lediglich den Schauplatz des Photographierens und empfindet die Einblicke, die ihm die Menschen für seine Daumenkinos gewähren, als Geschenk. Das Besondere und besonders Hilfreiche hierbei ist, dass die Menschen, die Gerling auf seinen Wanderschaften trifft, in der Regel nicht wissen, dass sie mehrmals photographiert werden. In dem Moment, in dem die bewusst oder unbewusst angenommene Pose der Person selbst weicht, entsteht eine unmittelbare Schönheit des Wesentlichen. Dabei lässt der Künstler nicht nur den Porträtierten, sondern auch den Zuschauern Freiraum für das Eigene. „Ich will keine fertigen Geschichten erzählen. Ähnlich wie das Daumenkino bewusst mit Lücken, mit Leerstellen arbeitet, die man ja ergänzen muss. Ich versuche, dem Zuschauer die Chance zu geben, die Geschichten selbst weiterzudenken.“

Text: Tabea Mager

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