Dienstag, 12. Juni 2007
Interview | Entrevue Anne Tismer
perspectives, 18:33h
Anne Tismer im Interview mit Aurélie Youlia, selbst zweisprachig aufgewachsene Schauspielerin. Anne Tismer war in einer deutschen und einer französischen Aufführung des gleichen Stückes, „Der 20. November“, in Saarbrücken zu sehen.
FZ: In Saarbrücken spielen Sie „Der 20. November“ auf Deutsch und Französisch. Welche Fassung ist die ursprüngliche?
Tismer: Das Stück hatte seine Premiere auf Französisch beim Festival in Liège. Der Autor und Regisseur Lars Noren ist Schwede; mit dem habe ich immer englisch gesprochen. Für das Französische hatten wir eine Übersetzerin.
FZ: Der Titel des Stücks bezieht sich sehr direkt auf die Ereignisse in Emsdetten, als der Junge Sebastian in seinem ehemaligen Gymnasium einige seiner früheren Mitschüler niederschoss.
Tismer: Es geht hier nicht nur um den einen Jungen, aber der Verlag wollte diesen Titel. Lars Noren wollte es „Destruction“ nennen, weil es darin darum geht, alles kaputtzuschlagen. Jetzt orientiert sich der Titel an diesem einen Jungen; aber es geht nicht um die Dokumentation von dessen Identität.
FZ: Aber die Fotokopien, die Sie in der Aufführung verteilen, sind Originalauszüge aus seinem Tagebuch?
Tismer: Ja. Als ich die Tagebücher das erste Mal gelesen habe, war ich sehr beeindruckt, dass da im Internet jemand ankündigt, was er machen wird. Und dass er daneben auch über das redet, worüber man in der Schule meist schweigt, weil man als Jugendlicher immer sich selbst die Schuld gibt und einem alles peinlich ist. Aber dieser Junge hat die Drangsalierungen, die ganzen Peinlichkeiten aufgeschrieben. Und da fühlte ich mich selbst an meine eigenen Erlebnisse in der Schule erinnert.
FZ: Als Zuschauer geht es einem genauso, auch wenn man nicht gleich zum Mörder werden will.
Tismer: Es ist ganz wichtig, dass er kein Opfer war. Aber solche Gedanken, wie sie Sebastian hat, nagen ja in einem und man denkt die ganze Zeit, irgendwas muss da doch passieren. Die Erinnerungen an meine eigene Schulzeit waren durchaus ein Auslöser, dieses Stück aufzuführen.
FZ: Die Selbstdarstellung vielleicht dieser ganzen Generation ist geprägt von Internet, vom Fernsehen, von Haltungen, die Sie ja in der Aufführung auch darstellen.
Tismer: Heute kann man sich durch den You-Tube-Kanal selbst veräußern und plötzlich das sein, was überall propagiert wird. Überall wird etwas vorgelebt, in Deutschland soll man irgendwelche Amerikaner anhimmeln - die haben die meiste Publicity. Deswegen redet ja der Junge auch englisch, weil er will, dass ihn alle verstehen. Aber er wird nie diese Chance haben, also bleibt ihm nur das Internet.
FZ: Ist es ein Unterschied für Sie, auf Deutsch oder auf Französisch zu spielen? Die deutsche Vorstellung wirkte hier schockierender, deftiger, knallender.
Tismer: Das liegt daran, dass ich das Stück vom Französischen ins Deutsche übersetzt habe. Dabei habe ich Einiges geändert und noch härter gemacht.
FZ: War das Ihre erste Zusammenarbeit mit dem Regisseur Lars Noren?
Tismer: Ja. Ein gemeinsamer Kollege hat mich gefragt, ob ich was auf Französisch mit Lars Noren machen möchte und ich sagte ja. Dann hat er Lars Noren gefragt, der mich nicht kannte, dann haben wir uns getroffen und überlegt, was wir machen wollen. Während dieser Zeit hat dieser Junge das in Emsdetten gemacht. Da wusste ich, dass ich darüber etwas machen will.
FZ: Und Noren hat den Text für Sie geschrieben?
Tismer: Ja. Er hat das, was der Junge im Internet geschrieben hat, als Basis genommen und darüber eine eigene Poesie entwickelt.
FZ: Wie reagierte das Publikum auf die bisherigen Aufführungen?
Tismer: Sehr unterschiedlich. Es gibt Leute, die verlassen die Vorstellung, weil im Text auch faschistoide Passagen enthalten sind. Nach einigen Aufführungen habe ich längere Diskussionen geführt. Manchmal wissen die Leute dann gar nicht, was sie sagen sollen. Es ist auch schwierig, wenn ich zuvor eine ganze Stunde geredet habe; dann gibt es nicht mehr so viele Argumente. Ich bin sie ja schon fast alle durchgegangen.
FZ: Sie arbeiten seit einigen Monaten als freie Schauspielerin in einem eigenen Kollektiv. Haben Sie die Berliner Schaubühne verlassen, um gerade solche politischen Stücke spielen zu können?
Tismer: Sonst hätte ich das Stück mit Lars Noren wohl nicht machen können. Gerade haben wir in unserem Ballhaus Ost ein Stück herausgebracht, „25: Mai“, das von Müttern handelt, die ihre Kinder ins Klo, aus dem Fenster werfen. Wenn man nur sich selbst und keinem institutionalisiertem Betrieb verantwortlich ist, kann man solche Sachen machen.
Text: Aurélie Youlia
FZ: In Saarbrücken spielen Sie „Der 20. November“ auf Deutsch und Französisch. Welche Fassung ist die ursprüngliche?
Tismer: Das Stück hatte seine Premiere auf Französisch beim Festival in Liège. Der Autor und Regisseur Lars Noren ist Schwede; mit dem habe ich immer englisch gesprochen. Für das Französische hatten wir eine Übersetzerin.
FZ: Der Titel des Stücks bezieht sich sehr direkt auf die Ereignisse in Emsdetten, als der Junge Sebastian in seinem ehemaligen Gymnasium einige seiner früheren Mitschüler niederschoss.
Tismer: Es geht hier nicht nur um den einen Jungen, aber der Verlag wollte diesen Titel. Lars Noren wollte es „Destruction“ nennen, weil es darin darum geht, alles kaputtzuschlagen. Jetzt orientiert sich der Titel an diesem einen Jungen; aber es geht nicht um die Dokumentation von dessen Identität.
FZ: Aber die Fotokopien, die Sie in der Aufführung verteilen, sind Originalauszüge aus seinem Tagebuch?
Tismer: Ja. Als ich die Tagebücher das erste Mal gelesen habe, war ich sehr beeindruckt, dass da im Internet jemand ankündigt, was er machen wird. Und dass er daneben auch über das redet, worüber man in der Schule meist schweigt, weil man als Jugendlicher immer sich selbst die Schuld gibt und einem alles peinlich ist. Aber dieser Junge hat die Drangsalierungen, die ganzen Peinlichkeiten aufgeschrieben. Und da fühlte ich mich selbst an meine eigenen Erlebnisse in der Schule erinnert.
FZ: Als Zuschauer geht es einem genauso, auch wenn man nicht gleich zum Mörder werden will.
Tismer: Es ist ganz wichtig, dass er kein Opfer war. Aber solche Gedanken, wie sie Sebastian hat, nagen ja in einem und man denkt die ganze Zeit, irgendwas muss da doch passieren. Die Erinnerungen an meine eigene Schulzeit waren durchaus ein Auslöser, dieses Stück aufzuführen.
FZ: Die Selbstdarstellung vielleicht dieser ganzen Generation ist geprägt von Internet, vom Fernsehen, von Haltungen, die Sie ja in der Aufführung auch darstellen.
Tismer: Heute kann man sich durch den You-Tube-Kanal selbst veräußern und plötzlich das sein, was überall propagiert wird. Überall wird etwas vorgelebt, in Deutschland soll man irgendwelche Amerikaner anhimmeln - die haben die meiste Publicity. Deswegen redet ja der Junge auch englisch, weil er will, dass ihn alle verstehen. Aber er wird nie diese Chance haben, also bleibt ihm nur das Internet.
FZ: Ist es ein Unterschied für Sie, auf Deutsch oder auf Französisch zu spielen? Die deutsche Vorstellung wirkte hier schockierender, deftiger, knallender.
Tismer: Das liegt daran, dass ich das Stück vom Französischen ins Deutsche übersetzt habe. Dabei habe ich Einiges geändert und noch härter gemacht.
FZ: War das Ihre erste Zusammenarbeit mit dem Regisseur Lars Noren?
Tismer: Ja. Ein gemeinsamer Kollege hat mich gefragt, ob ich was auf Französisch mit Lars Noren machen möchte und ich sagte ja. Dann hat er Lars Noren gefragt, der mich nicht kannte, dann haben wir uns getroffen und überlegt, was wir machen wollen. Während dieser Zeit hat dieser Junge das in Emsdetten gemacht. Da wusste ich, dass ich darüber etwas machen will.
FZ: Und Noren hat den Text für Sie geschrieben?
Tismer: Ja. Er hat das, was der Junge im Internet geschrieben hat, als Basis genommen und darüber eine eigene Poesie entwickelt.
FZ: Wie reagierte das Publikum auf die bisherigen Aufführungen?
Tismer: Sehr unterschiedlich. Es gibt Leute, die verlassen die Vorstellung, weil im Text auch faschistoide Passagen enthalten sind. Nach einigen Aufführungen habe ich längere Diskussionen geführt. Manchmal wissen die Leute dann gar nicht, was sie sagen sollen. Es ist auch schwierig, wenn ich zuvor eine ganze Stunde geredet habe; dann gibt es nicht mehr so viele Argumente. Ich bin sie ja schon fast alle durchgegangen.
FZ: Sie arbeiten seit einigen Monaten als freie Schauspielerin in einem eigenen Kollektiv. Haben Sie die Berliner Schaubühne verlassen, um gerade solche politischen Stücke spielen zu können?
Tismer: Sonst hätte ich das Stück mit Lars Noren wohl nicht machen können. Gerade haben wir in unserem Ballhaus Ost ein Stück herausgebracht, „25: Mai“, das von Müttern handelt, die ihre Kinder ins Klo, aus dem Fenster werfen. Wenn man nur sich selbst und keinem institutionalisiertem Betrieb verantwortlich ist, kann man solche Sachen machen.
Text: Aurélie Youlia
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